SPD Nortorf

"Käseblatt"-Prozess und Gaststättenboykott

"Käseblatt"-Prozess und Gaststättenboykott

Die zunehmende Organisation der Arbeiterschaft und das Erwachen ihres Klassenbewußtseins wurde in Nortorf wie im gesamten deutschen Kaiserreich mit äußerstem Mißtrauen beobachtet. Von Behördenseite versuchte man, die Bewegung durch Versammlungsverbote und (falls das nicht gelang) durch Überwachung zu behindern. So kamen zu einer Protestversammlung in Wulfs Salon in Januar 1906 nicht nur 200 Arbeiter aus Stadt und Umland, sondern auch der Bürgermeister mit zwei Gendarmen und dem Ortspolizisten. „Der Bürgermeister, der auf das Ungesetzliche der starken Überwachung aufmerksam gemacht wurde, erklärte: ‚Die Überwachung bleibt hier, es geschieht auf höheren Befehl." (VZ 24/01/1906)

Einschüchterung durch allgegenwärtige Präsenz einerseits und kleinliche Behinderung andererseits bestimmten die Politik der Stadtoberen gegenüber den Arbeitern. Im Mai 1910 beschwerte sich die Volkszeitung: „Wie ‚unparteiisch′ unser Bürgermeister am 1. Mai wieder gehandelt hat, beweist, daß der Sozialdemokratische Verein zur Maifeier nur bis 12 Uhr nachts einen  Tanzschein erhalten konnte, weil ja dann, wie der Bürgermeister meinte, der 1. Mai vorbei sei und er nicht länger bewilligen könne; denn er müsse sich sein Fell auch sichern. Wie kommt es denn nun, daß am selben Tage der gewöhnliche Tanzklimbim bis nachts 2 Uhr genehmigt wird? Ist das nicht sonderbar, daß der Tag nur für Arbeitervereine bis 12 Uhr nachts dauert? Uns kommt die ganze Geschichte so vor, als wenn unser Polizeioberhaupt nur böses Blut zu machen versucht." (VZ 05/05/1910)

Die im Vorfeld von Wahlen stattfindenden Versammlungen boten immer wieder Gelegenheit zur politischen Auseinandersetzung. Nicht nur die Behördenvertreter erschienen unaufgefordert zu sozialdemokratischen Versammlungen, auch Vertreter anderer Parteien versuchten regelmäßig, die Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen wie z.B. bei einer Wahlveranstaltung zur Reichstagswahl 1907: „In einer von ca. 250 Personen besuchten Versammlung referierte am Sonntagnachmittag unser Reichstagskandidat [Legien]. Seine Ausführungen wurden mit lebhaftem Beifall aufgenommen. In der Diskussion nahm Herr Rektor Petersen, der Vorsitzende des Liberalen Vereins, das Wort. Er versuchte für seinen Kandidaten, Herrn Stellter, Stimmung zu machen. Kein Laut des Beifalls war nach seinen Ausführungen zu vernehmen. In aller Ruhe fertigte unser Genosse Legien diesen Herrn ab, jedesmal mit starkem Beifall belohnt." (VZ 23/01/1907)

Vom  „herzlichen" Verhältnis zwischen den Nortorfer Sozialdemokraten und der Lokalpresse in Gestalt der „Nortorfer Zeitung", herausgegeben von Hermann Braun, war schon einmal die Rede. Im Jahre 1911 erreichte es dann seinen absoluten Tiefpunkt. Zunächst bemängelte man nur seine tendenziöse Berichterstattung von sozialdemokratischen Versammlungen, obwohl dort kein Vertreter seiner Redaktion gesichtet worden war. Ein Artikel in der Volkszeitung am

3. Februar 1911, der unter dem Titel „Das ‚Frühlingsahnen′ des Herrn Bürgermeisters Beyer" von der Kaiser-Geburtstagsfeier berichtete, führte dann aber zur Eskalation. Dabei ging es weniger um die Feier selbst. Stein des Anstoßes war der Satz, mit dem ein Zitat der Bürgermeister-Rede eingeleitet wurde: „Nach dem Bericht des hiesiges Käseblattes ...". Das wollte Hermann Braun nicht auf sich sitzen lassen, strengte eine Beleidigungsklage gegen die Volkszeitung an und erntete dafür Hohn und Spott. Die Volkszeitung schrieb am 29. März 1911: „Ein allgemeines Gelächter herrschte dieser Tag in unserm Städtchen unter jung und alt, unter Arbeitern und Bürgern über den in der Sonnabend-Nummer des hiesigen ‚Amtsblattes′ erschienen Artikel über die Gerichtsverhandlung gegen den Genossen Hentschel-Kiel, in dem berühmten ‚Käseblatt′-Prozeß. Herr Hermann Braun, der zu seiner - allerdings wohl wenig benutzten - Feder so wenig Zutrauen hatte, daß er entgegen aller journalistischen Gepflogenheit um einer Lappalie willen zum Kadi lief - Herr Hermann Braun hatte über besagten ‚Käseblatt′-Prozeß anstatt klüglich zu schweigen, einen Bericht veröffentlicht, der aufs neue von den ungewöhnlichen journalistischen Fähigkeiten seines Verfassers Zeugnis ablegte - einen Bericht, der ein völlig tendenziöses Bild von der Verhandlung gab und von direkten Unwahrheiten und Entstellungen nur so strotzte. Überdies war darin die angebliche Beleidigung mit einem -Topf verglichen worden, was weder Sinn noch Stil hatte. Dieser eigenartige Bericht bildet den allgemeinen Gesprächsstoff in Nortorf. Die örtliche Verwaltung des Sozialdemokratischen Vereins hat nun beschlossen, die journalistische Glanzleistung des Nortorfer Weltblattes einrahmen zu lassen und im Vereinslokal zum ewigen Andenken auszuhängen. Hoffentlich wird Herr Braun uns dankbar dafür sein, daß wir auf diese Weise ihm, seinem ‚Käseblatt′-Prozeß und seinem Topfbericht Unsterblichkeit verleihen!" Leider ist aus dieser Zeit keine Exemplar der Nortorfer Zeitung mehr erhalten, so daß man den „Topfbericht" nicht mehr nachlesen kann und der Blick auf die „Käseblatt-Affäre" zwangsläufig einseitig bleiben muß.

Nicht nur die Presse, auch die Gastronomie lag in einem beständigen Kampf mit der Sozialdemokratie. So war es für Nortorfs Wirte nicht selbstverständlich, ihre Räume für deren Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen, wollten sie sich das Wohlwollen der bürgerlichen Kundschaft nicht verscherzen. Im Jahre 1912 - als das langjährige Vereinslokal Wulffs Gasthof gerade aus unbekannten Gründen bestreikt wurde - bemühte sich der Besitzer von Krohns Gasthof trotzdem um eine gemeinsame Protestveranstaltung von Partei und Gewerkschaften gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, die am 12. Mai stattfinden sollte. Auf Druck bürgerlicher Kreise machte er jedoch kurz vorher einen Rückzieher, der nicht ohne Folgen bleiben sollte. Die Volkszeitung berichtete: „Kaum war die Nachricht laut geworden, daß die organisierte Arbeiterschaft wieder ein Lokal zur Verfügung habe, in dem sie ihre Interessen vertreten konnte, als auch die Spießer zu einem Schlage ausholten, der die Arbeiterschaft treffen sollte. Leute, die bisher noch keinen Fuß über die Schwelle dieses Gasthofs gesetzt hatten, fanden den Weg dahin, sogar unser gestrenger Herr Bürgermeister soll sich an der Aktion beteiligt haben. ... Solchem Liebeswerben konnte Herr Fischer nicht standhalten, er strich die Segel und setzte die erst so warm umworbenen Arbeiter, denen er sein Lokal sogar zu den Mitgliederversammlungen des Sozialdemokratischen Vereins geben wollte, wieder auf die Straße. Herrn Fischer scheint aber der Besuch so vieler Lokalgrößen arg zu Kopf gestiegen zu sein, denn er hat nicht nur auf die Arbeiterschaft verzichtet, jetzt sind ihm sogar die Eisenbahnarbeiter und Unterbeamten zu ‚gewöhnlich′. Er hat nämlich dem Eisenbahnerverband eine ihm zugeschickte Einladungskarte zu einer Festlichkeit mit dem Vermerk zurückgeschickt: er wolle nichts mit ihnen zu tun haben. Uns kann das schon recht sein. Gerade die Unterbeamten und Eisenbahnarbeiter, die da glauben, auf Grund ihrer Beschäftigung ‚königstreu′ sein zu müssen, ersehen daraus, daß auch sie in den großen Topf der Proleten geworfen werden, wenn einige Lokalgrößen einem Manne dem Kopf verdrehen, der trotz seines Aufenthaltes in einer Großstadt noch nichts von der Arbeiterbewegung versteht." Als Reaktion auf das Verhalten des Wirtes riefen SPD und Gewerkschaften auf, „ Krohns Gasthof und die aus der Bäckerei des Herrn Fischer hervorgehenden Backwaren zu boykottieren." Der Artikel der Volkszeitung endete mit dem pathetischen Satz: „Wer Krohns Gasthof in irgend einer Weise unterstützt, wird zum Verräter an der organisierten Arbeiterschaft!" (VZ vom 22/05/1912)

Der Bürgermeister dementierte wenige Tage darauf, an der Aktion beteiligt gewesen zu sein, was die Volkszeitung mit Genugtuung registrierte. Nachdem der Eigentümer von Wulffs Gasthof offiziell erklärt hatte, seine Räume ständen für sozialdemokratische Veranstaltungen nach wie vor zur Verfügung, wurde der Boykott gegen ihn aufgehoben. Krohns Gasthof wurde aber nach wie vor boykottiert. Nach einigen Monaten stellte der Wirt fest, daß die Arbeiterschaft einen nicht zu vernachlässigenden Wirtschaftsfaktor ausmachte. Er gab klein bei und der Boykott wurde aufgehoben und Krohns Gasthof avancierte zum sozialdemokratischen Vereinslokal.

 

Krohns Gasthof (um 1900) Vereinslokal des SPD Ortsvereins - rechts das "Sindtsche Kaufhaus"
(Foto: Stadtarchiv, Nortorf)

 
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